Alles was ist, endet. (Erda, „Das Rheingold“, Richard Wagner)

 

Cover: In dieser ganz besonderen NachtZum Inhalt

Nach dem Tod der Mutter kommt die sechzehnjährige Amber zu ihrem Vater nach San Francisco. Sie muß sich in einem fremden Land, einer fremden Stadt, einer fremden Umgebung zurecht finden. In einem leerstehenden Haus trifft sie Nathaniel, der sie versteht und mit dem sie sich anfreundet. Doch irgendwie besteht eine unüberwindliche Grenze zwischen den beiden. Als Amber bewußt wird, was das für eine Grenze ist, ist nichts mehr wie zuvor. Sie steht vor der Entscheidung, wie es weitergehen soll. Mit ihrem Leben wie ihrer Beziehung zu Nathaniel. Aber kann man so eine Entscheidung treffen, wenn man nicht die Folgen kennt?  

 

 

Kommentar / Meine Meinung

Alles was ist, endet. Dieser Satz der Erda aus dem „Rheingold“ fiel mir während des Buches unwillkürlich ein. Jener Ausspruch, den ich sogar auf einem meiner früheren Autos hatte. Das vor langer Zeit den Weg des irdischen ging und in der Schrottpresse geendet ist.

Wir haben doch alle Zeit der Welt. So liest man an einer Stelle im Buch (Seite 426). Aber wenn alles endet, hat man dann wirklich alle Zeit der Welt? Wenn man jung ist, mag man das denken. Aber schon bald muß Amber erfahren, daß „alle Zeit der Welt“ kurz sein und bald enden kann. Denn als sie 16 ist, stirbt ihre Mutter. Mit dem Ende ihres Lebens endet für Amber ihre Zeit in Deutschland. Wie von ihren Eltern vereinbart, soll sie zu ihrem Vater nach San Francisco. So muß sie nicht nur den Tod der Mutter verkraften, sondern sich auch in einer völlig fremden Umgebung zurecht finden. Bald dämmert ihr, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht, daß „Ende“ und „alle Zeit der Welt“ möglicherweise sehr relative Begriffe sind und gar nicht so eindeutig, wie man meinen sollte.

Von Nicole C. Vosseler habe ich alle Bücher im Regal stehen, die meisten davon gelesen. Dieses ist ganz anders als ihre sonstigen, auch die beiden früheren Jugendbücher. Ich habe seit längerem kein Fantasy-Buch mehr gelesen und war darob gespannt, wie ein solches der Autorin, die dafür verantwortlich ist, daß ich seit Jahren fast nur Darjeeling-Tee trinke, wohl sein würde. Es ist, Format und Cover deuten es schon an, auf jeden Fall anders als ihre bisherigen Bücher. Als sehr positiv möchte ich erwähnen, daß man beim Verlag nicht der heutzutage grassierenden Seuche der „Pseudonymeritis“ erlegen ist. Ob ich das Buch mit einem anderen Autorennamen auf dem Titel gekauft hätte, weiß ich nicht; so war ich mir ziemlich sicher, daß das Buch gut sein muß, wenngleich ich bis kurz vor dem Ende keine Vorstellung hatte, wie es denn ausgehen würde. Und auch da in gewisser Weise überrascht wurde.

Die Verschmelzung von realer und Fantasywelt in einem Buch ist oft ein Balanceakt, der nicht immer gut gehen muß. Mir fällt da Herbie Brennan ein, dem in seinen „Elfenwelt“-Büchern genau solches in bewundernswerter Weise gelungen ist. Im Stillen messe ich Bücher, in denen solches passiert, immer mit jenen „Elfen-Büchern“, aber hier war das kein Problem. Die Fantasy (oder sollte ich sie besser als die „übersinnlichen“ bezeichnen?) Elemente tauchen langsam, aber so logisch auf, daß das einfach so sein muß und ich mich schon bei der Überlegung ertappt habe, weshalb mir diese doch so offensichtlichen Dinge bisher in der realen Welt entgangen sind.

Im Vergleich zu den beiden bisherigen Jugendtiteln ist das sicher das komplexeste. Amber muß den Tod ihrer Mutter verkraften, in ein anderes Land zu dem ihr weitgehend fremden Vater umziehen, sich in einer völlig von allem bisherigen verschiedenen Umgebung einrichten und damit zurecht kommen, plötzlich Geister zu sehen. Was nach einer Überfrachtung aussieht, ist beim Lesen jedoch keine. Langsam entwickeln sich die Dinge, bis sich das Tempo gegen Ende hin steigert. Dabei hatte ich eigentlich nie das Gefühl, ein Jugendbuch zu lesen, obwohl ich mir vorstellen kann, daß das meiner Tochter - die im Alter der eigentlichen Zielgruppe ist - gefallen müßte. Viele Bücher werden heute aus Marketinggründen als „All Age“ bezeichnet. Das hier muß man nicht so bezeichnen - es ist eines.

Stilistisch hat es mich an die „Erwachsenenbücher“ der Autorin erinnert, aber in einer quasi abgespeckten Form, auf jeden Fall deutlich über den Niveau so mancher anderen Titel. Ein dickes Plus. Die Geschichte selbst war für mich in sich schlüssig und folgerichtig aufgebaut. Die Truppe um Amber ist ein buntes Völkchen, und ihr Vater Ted bemerkenswert tolerant. Denn wie ich reagieren würde, wenn jemand mit dem Aussehen etwa von Matt bei uns aufkreuzen würde, möchte ich mir lieber nicht vorstellen. Jedenfalls sicherlich nicht so cool wie Ted.

Figuren wie Orte konnte ich mir gut vorstellen und Denk- und Handlungsweisen nachvollziehen. Irgendwelche Ungereimtheiten sind mir, wie schon angedeutet, nicht aufgefallen. Lediglich mit Nathaniel wurde ich bis zum Ende hin nicht so richtig warm, ohne daß ich sagen könnte, woran das lag. Eigentlich hatte er viel an sich, was einen für ihn einnehmen müßte - aber die Distanz zu ihm blieb seltsamerweise bis zum Schluß bestehen. Apropos Distanz: als ich zu lesen begonnen habe, hatte ich das Gefühl, daß mir da jemand eine Geschichte, die mich nicht betrifft, erzählt. Irgendwann im Verlauf des Buches hat meine Perspektive sich verändert und ich war gefühlsmäßig „mitten drinnen“.

Über das Finale bzw. Ende des Buches kann man möglicherweise unterschiedlicher Meinung sein. Mir hat es sehr gefallen, nachdem ich bis kurz vor der letzten Seite völlig im Dunklen tappte, wie das alles zu einem wie auch immer gearteten guten Ende führen soll. Ganz zum Schluß habe ich mich sogar mit Nathaniel etwa anfreunden und aussöhnen können.

Ohne daß ich jetzt näher darauf eingehen möchte, weil das zu viel spoilern würde, hat mich gefreut, daß mir im Buch vieles, was ich aus anderen Büchern (Sach wie Romanen, vor allem Richard Matheson) kannte, wiederbegegnet ist. Nicht und auf keinen Fall im Sinne von „ist genau so wie“ oder gar „abgeschrieben“ (so hat auch Matheson seine Zeitreisetechnik von Jack Finney übernommen, ohne daß das „abgekupfert“ wirken würde oder wäre), sondern daß gleiche Thematiken und Motive immer auch auf gleiche oder ähnliche Art auftauchen. Das gibt mir als Leser eine gewisse Sicherheit und läßt mich mit der (bangen?) Frage zurück, wie sich das denn nun eigentlich in der Welt, die wir als die „reale“ zu bezeichnen gewohnt sind, wirklich verhält. Bei meinem nächsten Gang auf einen Friedhof werde ich jedenfalls deutlich genauer hinsehen als bisher, wen oder was ich denn da vor mir habe ...  

 

Kurzfassung

„In einer ganz besonderen Nacht“ begegnen sich zwei Welten. Daß dies nicht ohne Gefahren ist, müssen Amber und Nathaniel schmerzlich erfahren. Eine Geschichte um jugendliche Ängste, Verlust, Trauer, Vergebung. Und ein Rundum-Wohlfühlbuch.  

 

 

Bibliographische Angaben

Ab etwa 14 Jahren; 567 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. Verlag: cbj Verlag, München 2013