Zum Inhalt
Berlin um 1890. Das Fahrrad ist neu und ein Luxusartikel, den sich nur wenige leisten können. Immer wieder trifft Josefine Schmied sich mit ihren Freundinnen Isabelle und Clara zum Radfahren. Sie ist davon besessen, riskiert dafür alles - und verliert.
Nach einem über dreijährigen Gefängnisaufenthalt muß sie ihr Leben neu in den Griff bekommen. Vom Lebensunterhalt bis hin zum Verhältnis zu ihren früheren Freundinnen. Da lernt sie einen Mann kennen, und es ergibt sich die Gelegenheit für ein Radrennen in Dänemark. Ob sie doch die Chance für einen Neubeginn bekommt?
Kommentar / Meine Meinung
Als ich den Klappentext für das Buch las, hat es mich so gar nicht interessiert. Obwohl darin zwei Stichworte enthalten sind, die normalerweise mein Interesse wecken: 19. Jahrhundert und Schwarzwald. Dennoch bedurfte es erst einiger anderer Rezensionen, um dem Buch näherzutreten.
Und dann wurde ich völlig überrascht, denn ich hatte mir vielen gerechnet. Aber nicht damit, daß die ersten über hundertünfzig Seiten vom Gefängnisaufenthalt Josefines geprägt sein würden. Und Gefängnis zu jener Zeit war kein Zuckerschlecken, das bringt die Autorin mehr als deutlich zum Ausdruck. Mir ist gar nicht so richtig bewußt, wodurch dieser Teil so ungemein eindringlich-depressiv auf mich wirkte, als ob ich selbst in einer dieser Zellen säße und vor mich hin rottete. Ich habe in der letzten Zeit einige Bücher gelesen, in denen schlimme Dinge vorkamen. Aber keines, das das so direkt fühlbar und miterlebbar machte die dieses. Ob das nun gut oder schlecht ist, sei dahingestellt. Es spricht einserseits für die Fähigkeit der Autorin zum Erzählen, hat mich andererseits über ein Drittel des Buches dauernd ans Abbrechen denken lassen.
Zum Glück ist es bei diesen Gedanken geblieben und ich habe ausgelesen.
Im weiteren Verlauf des Buches wird klar, weshalb dieser Gefängnisaufenthalt für Josefine so wichtig ist: weil das vermutlich (bedenkt man die Zeit) die einzige Möglichkeit für sie war, einen technischen Beruf zu erlernen. Sie wird zur Arbeit nämlich dem Hausmeister, mit dem sie sich gut versteht, zugeteilt. Der bringt ihr bei, was er weiß, und legt damit die Grundlage dafür, daß sie später Erfolg haben wird.
Das Besondere an dem Buch ist, daß hineinverwoben die Einführung des Velozipeds, wie man Fahrräder damals nannte, beschrieben wird. Vom ersten Mal an, da Josefine ein solches sieht, ist die fasziniert davon und möchte auch eines besitzen. Aber damals war das ein Luxusartikel, den sich nur reiche Menschen leisten konnten. Ihre Freundin Isabelle hingegen ist die Tochter eines Industriellen und besitzt so ein Veloziped. Vor dem Gefängnisaufenthalt hat Josefine oft auf Isabelles Rad fahren dürfen. Doch die Welt und die Umstände haben sich verändert.
Mußte ich mich während des Gefängnisteils, der immer wieder durch Rückblenden unterbrochen wird, eher zum Lesen zwingen, so entwickelte das Buch danach einen Sog, dem ich mich kaum entziehen konnte. Figuren wie Zeitumstände sind lebendig beschrieben, so daß ich mir teilweise wie in einem Period Drama vorkam, oder anders: Kopfkino erster Güte. So quasi nebenbei erfährt man von den gewaltigen Umwälzungen die da still und heimlich vor sich gehen. Denn je mehr die Menschen Fahrrad fahren, je weniger brauchen sie eine Kutsche oder Pferde. Und somit beispielsweise auch keine Hufschmiede mehr.
Andererseits lesen wir, was die „Experten“ davon hielten, daß Damen Fahrrad fahren wollten. Für uns heutige liest sich das wie ein sehr schlechter Scherz, doch die Ärzte meinten das damals todernst und kämpften mit einer erschreckenden Verbissenheit für ihre verbohrte Meinung. Das hat mich daran erinnert, daß bei Einführung der Eisenbahn hochangesehene Professoren nachwiesen, daß die enorme Geschwindigkeit, die die Züge entwickelten (der Adler fuhr etwa 30 km/h), lebensgefährlich sei. Ich glaube, wir heutigen können uns gar nicht vorstellen, was das für die Frauen jener Zeit bedeutet hat, Fahrrad zu fahren und teilweise für, denke ich an die andere Freundin Josefines, nämlich Clara, um es mal vorsichtig auszudrücken, Nachteile mit sich brachte. Erschreckend daran ist eigentlich, wie falsch die Experten mit ihrer Meinung lagen. Ich möchte gar nicht daran denken, welche Macht heute den "Experten" (wirklichen und selbsternannten) zukommt, denn wir leben inzwischen in einer Zeit, in der man schon nicht mehr von Expertengläubigkeit, sondern gar von Expertenhörigkeit sprechen kann. Wie die Geschichte zeigt, können Experten grundfalsch liegen. Was daraus für Gefahren entstehen können, mag sich jeder selbst ausmalen.
Ein Highlight besonderer Art schließlich ist die Beschreibung des Damenrennens in Dänemark, das - wie dem Nachwort zu entnehmen ist - tatsächlich stattgefunden hat. Da das einzige Sportereignis, das ich mir im Laufe eines Jahres ansehe, die Tour de France - also ein Straßenradrennen - ist, kam mir einiges sehr bekannt vor. Von Stürzen bis zum Doping - alles schon mal dagewesen.
Als ich das Buch dann beendet hatte, war ich tatsächlich etwas traurig, die inzwischen doch lieb gewonnenen, fast schon zu Freunden gewordenen Figuren verlassen zu müssen.
Das Buch ist der erste Band einer geplanten Trilogie, jedoch in sich abgeschlossen. Es bietet ein interessantes Leseerlebnis abseits von ausgetretenen Pfaden mit starken Figuren, die noch lange im Gedächtnis bleiben werden. Trotz meiner anfänglichen (erwähnten) Probleme eine dicke Leseempfehlung.
Kurzfassung
Mit einem ungewöhnlichen Thema (dem Aufkommen des Fahrrades) entführt uns die Autorin ins ausgehende 19. Jahrhundert. So „nebenbei“ erfährt man viel über die damalige, im Wandel begriffene Gesellschaft. Absolut lesenswert.
Bibliographische Angaben
496 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, List Verlag Berlin, 2012