Das Ärgste ist, dass alles weitergeht, als wär' nichts passiert! Was müsst' eigentlich geschehn, um dieses grauenhafte Weitergehn zu verhindern?“, fragte er im selben Atem.
Sie antwortete: „Nichts! Es geht immer weiter.“
Sie dachte an Rudolf und den Tod.
(S. 248)

 

Cover: Der Engel mit der PosauneZum Inhalt

Ein Engel, der eine Posaune bläst, thront als Steinfigur über dem Eingang zum Haus in der Seilerstatt 10 in Wien und wacht seit dem Bau über die Bewohner. Diese sind alle Mitglieder der Familie Alt, einer alteingesessenen Klavierbauerfamilie. Mit Henriette Stein, die ein enges Verhältnis zum Kronprinzen Rudolf hat, kommt „frisches Blut“ in die Familie, als sie den Fabrikerben Franz Alt heiratet. Doch nicht alle Familienmitglieder sind ihr gewogen, und manchmal erscheinen die Sitten im Haus ähnlich streng wie die bei Hofe.
Zwischen dem Selbstmord des Kronprinzen Rudolf und dem „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich entwirft der Autor, in dem er die Geschichte der Generationen der Alts in der Seilerstätte 10 erzählt, nicht nur eine Familiengeschichte, sondern das Bild vom Untergang des alten Österreich.

 

 

 

Meine Meinung

Noch nie, soweit ich mich erinnere, habe ich zu einem gelesenen Buch eine zweite Rezension geschrieben. Sicherlich ist es kein Zufall, daß ausgerechnet „Der Engel mit der Posaune“ nun das erste ist, was mich zu einer solchen veranlaßt. Denn erst beim zweiten Lesen ist mir die ganze Tragik, die in diesem Buch steckt, so richtig bewußt geworden.

Es gibt Bücher, und dieses gehört gewißlich dazu, die man wohl am Besten mehrfach liest. Das erste Mal, um sich mit der Handlung bekannt zu machen. Und ein- oder mehrfach weiteres Mal dann, um das Hintergründige, den Gesamtzusammenhang (der sich manchmal erst erschließt, wenn man am Anfang schon das Ende kennt), das, was zwischen den Zeilen steht, voll zu erfassen.

So erging es mir mit diesem Buch.

In Kenntnis der Handlung sind mir Hinweise auf Entwicklungen, die kommen aufgefallen, die man beim ersten Lesen als solche vielleicht gar nicht wahrnimmt. Und mir ist die ganze Tragik der Henriette Alt, geb. Stein, bewußt geworden. Es ist ihr Leben, das fast das ganze Buch ausmacht. Am Beginn (der Handlung) die Beziehung zum Kronprinzen Rudolf, der sich an Henriettes Hochzeitstag das Leben nimmt. Am Ende der Einmarsch der Nazis in Wien und der „Anschluß ans Reich“ mit all seinen gräßlichen Begleiterscheinungen. Dazwischen ein Weltkrieg, der Zusammenbruch des Habsburgerreiches, die kurzlebige Republik. Fünf Jahrzehnte österreichische Geschichte auf rund fünfhundert Seiten. Alles innerhalb eines Menschenlebens.

Vor allem diesen Schlußteil habe ich als extrem intensiv empfunden. Von heute auf Morgen, als ob man einen Schalter umgelegt hätte, kippt die Stimmung, und was nie eine große Rolle spielte, wird plötzlich entscheidend wichtig für Leben oder Tod: ob man nämlich jüdische Vorfahren hat oder nicht. Wie schnell der latente, mal mehr, mal weniger stark vorhandene Antisemitismus in offene Ablehnung, Diskriminierung und Schlimmeres umschlägt. Fassungslos habe ich die Handlung verfolgt und mir immer wieder vor Augen gehalten, daß das „nur ein Roman ist“. Aber da der Autor durchaus eigene solche Erfahrungen in seinem Leben gemacht hat, es also zu befürchten ist, daß er das recht wirklichkeitsnah beschrieben hat. „Das Leben besteht aus den Pausen zwischen den Katastrophen.“ (S. 533) Wenn ich dieses Buch betrachte und dann den Blick auf die heutige Situation werfe, beschleicht mich das dumpfe Gefühl, daß die derzeitige Pause ihrem Ende entgegen geht.

Mein Fazit

Ein großartiger Roman, nicht nur über eine Familie, sondern den Untergang der einen und das Heraufdämmern einer anderen Epoche. Wenn ich mich heute in unserer Zeit so umsehe, eine Warnung, was passieren kann, wenn man nicht aufpaßt, Zivilcourage hat und den Anfängen wehrt. Das Buch sollte Pflichtlektüre werden.

 

Über den Autor

Ernst Lothar (eigentlich Ernst Lothar Sigismund Müller) wurde 1890 in Brünn geboren. Er studierte Germanistik und Jura an der Universität Wien, Abschluß 1914 mit Dr. jur. Er heirate (Scheidung 1933) und wurde zum Kriegsdienst eingezogen. Nach dem Krieg wurde er als Staatsanwalt tätig und veröffentlichte erste Werke unter Pseudonym. 1925 wurde er als Hofrat pensioniert. Danach arbeitete er als Theater- und Literaturkritiker, führte Regie am Burgtheater und wurde 1935 Nachfolger von Max Reinhardt am Theater in der Josefstadt. 1933 heiratete er die Schauspielerin Adrienne Gessner, mit der er 1938 vor den Nazis über Paris in die USA floh. 1946 kehrten sie nach Österreich zurück. Von 1948 bis 1962 war er als Regisseur am Burgtheater tätig, bis 1959 gehörte er der Direktion der Salzburger Festspiele an.
Er starb in Wien am 30. Oktober 1974.

Bibliographische Angaben meiner gelesenen Ausgabe

543 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Verlag: Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. ISBN 978-3-552-05768-5

 

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