“Mythos ist die Epiphanie des Göttlichen im Sprachzentrum des menschlichen Hirns.“ (Karl Kerényi, Seite 187)

 

Cover: AnnaIn in den KatakombenZum Inhalt

„Mit dieser Geschichte habe ich auf einen der ältesten Mythen der Menschheit zurückgegriffen. Die Heldin ist die sumerische Göttin Inanna, Tochter des Mondgottes und der Mondgöttin, Herrscherin über die Stadt Uruk, die Göttin von Liebe und Krieg,“ schreibt die Autorin zu ihrem Buch.
Inanna auf ihrer Reise in die Unterwelt und wieder zurück: das ist die älteste der uns bekannten Erzählungen über eine Gottheit, die regelmäßig stirbt, doch nach gewisser Zeit wieder ins Leben zurückkehrt. Hier mit modernen Elementen und Bildern versehen nacherzählt.

 

 

 

 

Vorbemerkung

Das Buch las ich erstmals im Januar/Februar 2008, lange bevor ich diese Webseite einrichtete. Meine Rezension hatte ich damals für ein Bücherforum geschrieben, jedoch nie hier nachgetragen. Nun habe ich das Buch ein zweites Mal gelesen - mit völlig anderem Leseeindruck. Sie finden hier zunächst meine Gedanken aus dem Jahr 2008 in (fast) unveränderter Form und darunter dann diejenigen des zweiten Lesens vom Juni 2022. Ich habe schon etliche Bücher mehrfach gelesen, aber noch niemals zuvor waren die Leseeindrücke dermaßen verschieden wie bei diesem Buch.

 

Meine Meinung, so geschrieben nach dem ersten Lesen Februar 2008

Ich, SiCollier, ich jeder, der erzählt, ich will versuchen, ein Buch vorzustellen, das sich nur schwer vorstellen, und noch schwerer einordnen läßt. Ein Buch, das zwar rasch durchgelesen (186 Seiten Text sowie dankenswerterweise rund 20 Seiten Nachwort und Erklärungen), jedoch sicher keine leichte Kost für so nebenbei ist. Seit einiger Zeit taucht das Thema „Inanna“ immer mal wieder im Forum der Joseph-Campbell-Foundation auf, wo ich auch das erste Mal davon gehört habe. Jetzt wollte mich mich näher damit befassen, und habe von meinen derzeit drei Büchern dazu mit diesem begonnen, weil es umfangmäßig das Dünnste ist. Ob es zum Themeneinstieg für gänzlich Unbedarfte das Geeignetste ist, bin ich mir nicht so ganz sicher.

Die Sprache besteht meist aus kurzen Sätzen, ist nüchtern, distanziert. Kühl wie die Welt, die sie beschreibt. Eine teilweise seltsame Welt, wie einem düsteren Science Fiction Film entlehnt. Ein Mythos der Sumerer, erzählt mit der Sprache und den Bildern unserer, vielleicht sogar einer zukünftigen Zeit. Eine ungewohnte, eine kraftvolle, auf jeden Fall eine eindrucksvolle und einprägsame Verbindung.

Das Buch wird aus mehreren Sichtweisen erzählt. Da ist einmal Nina Szubur, die Freundin und Dienerin AnnaIns, Inannas. Sie erzählt den größten Teil dessen, was außerhalb der Katakomben, im Leben, passiert. Da ist Neti, der Pförtner der Katakomben, der von dem berichtet, was in diesen - im Reich der Toten - geschieht. Und da ist Anna Geszti, Gesztianna, die Schwester des Gärtners, des Geliebten Inannas, die Traumdeuterin, die auch ihren Teil beisteuert.

„Den Mythos interpretieren heißt, auf dem Weg von Analyse, Assoziation und Amplifikation zu seiner Bedeutung vozustoßen, ihn aus der einen Sprache in die andere zu übersetzen. Den Mythos interpretieren heißt in diesem Sinne soviel wie sich selbst verstehen.“ (Seite 206)

Manchmal hatte ich das Gefühl, daß Erzählung und Interpretation ineinander verwoben sind, eine Einheit bilden, und den Weg zu sich selbst in Metaphern beschreiben, die sich nicht leicht, und schon gar nicht beim ersten Lesedurchgang erschließen. Als ob ein Mythos aus der Vergangenheit in die Sprache unserer Zeit übersetzt worden wäre. Aber selbst dann will er erarbeitet sein, erklärt seine Bedeutung nicht mal so nebenbei, spricht Schichten an, die uns heutigen nicht mehr unbedingt gegenwärtig sind, bisweilen sogar verleugnet werden.

"Es erscheint paradox, daß ausgerechnet im Sand des Irak - eines Landes, das Schauplatz so vieler Aspekte des aggressiven Triumphes patriarchalischer Macht geworden ist, wie Diskriminierung, Unterdrückung, Konfrontation, Domination - nach mehreren Jahrtausenden zu Beginn eines neuen Millenniums die mythologische Gestalt einer vielgesichtigen weiblichen Gottheit für uns wiederentdeckt wird." (Seite 203)

Im umfangreichen Nachwort gibt die Autorin viele Erläuterungen zur Textüberlieferung, zum Inhalt des Mythos, wie er auf uns überkommen ist, zu ihrem eigenen Herangehen an den Stoff. Diesen Teil habe ich zuerst gelesen, und war auch dankbar dafür.

Wie ich das Buch punktemäßig bewerten soll, weiß ich noch nicht. Dazu brauche ich noch etwas Abstand. Ich habe das Gefühl, mir hat jemand eine gleichnishafte Geschichte erzählt, in der eine tiefere und für mich wesentliche Bedeutung versteckt ist. Aber in Bildern, die sich mir als Rätsel darstellen und selbst erst entschlüsselt und in mein Leben übertragen werden müssen. So, wie es wohl bei den meisten Mythen der Fall ist.

Ich, SiCollier, ich jeder, der erzählt, ich habe versucht, etwas zu erklären, was kaum zu erklären ist. Der Weg zum Verständnis seiner selbst ist lang und beschwerlich; vielleicht ist hier, in diesem Buch, ein Einstieg, eine Hilfe gegeben.

 

Mein Fazit nach dem ersten Lesen 2008

Einer der ältesten Mythen erzählt in den verstörenden Bildern unserer Tage. Eine starke und gelungene Kombination.

 

 

Meine Meinung nach dem zweiten Lesen Juni 2022


Nach vierzehn Jahren zum zweiten Mal gelesen. Und nun bin ich sehr zwiegespalten. So gut mir das Buch damals gefallen hat, so wenig gefiel es mir heute. So sehr mich das Buch beim ersten Lesen angesprochen hat, so wenig tat es dies beim zweiten Lesen. Manche Bücher benötigen zum Lesen offensichtlich (auch?) den richtigen Lesezeitpunkt. Der kann sich wiederholen (wie etwa bei meinem Lieblingsbuch, das ich im Laufe meines Lebens sicherlich schon mehr als zehn Mal gelesen habe - und noch mehrfach zu lesen vorhabe) - oder er kann einmalig sein. Letzteres scheint bei diesem Buch hier bei mir der Fall zu sein.

Ich hatte das Buch vom ersten Lesen her in außerordentlich guter Erinnerung behalten. Und nun frage ich mich beständig: weshalb? Es hat mich damals ungemein beeindruckt - aber heute ließ es mich absolut kalt. Hätte ich es jetzt zum ersten Mal gelesen - ich hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit abgebrochen. So wollte ich auf jeden Fall zu Ende lesen - es könnte ja noch kommen, was mich seinerzeit so beeindruckt hat.

Allein, es kam nicht.

Ob es daran liegt, daß ich mich damals recht intensiv mit Mythologie beschäftigt habe und in einem Forum eine (heute nicht mehr vorhandene) Diskussion zu dem Thema geführt wurde? Oder daran, daß sich meine Interessengebiete seither deutlich gewandelt haben? Vermutlich spielt beides eine Rolle, woraus ich den Schluß ziehe, daß es nicht immer gut ist, ein Buch ein zweites Mal zu lesen - auch wenn man sich das unbedingt vorgenommen hat.

Was das Ganze am Ende dann sollte und wie das zu verstehen ist (oder zu verstehen sein soll) - ich weiß es nicht. Ich fand es nunmehr teilweise wirr, teilweise unlogisch und auf jeden Fall irgendwie nicht nachvollziehbar. Und wenn ich ganz ehrlich bin, fehlt mir die Motivation, diesem ganzen Wirrwarr nachzugehen und ihn zu entwirren.

 

Mein Fazit nach dem zweiten Lesen 2022

Falsches Buch - falsche Zeit? Nunmehr konnte ich überhaupt nichts mit dem Roman anfangen und empfand ihn als eine Art Wirrwarr, das zu entwirren mir Lust wie Motivation fehlen.

 

 

Über die Autorin

Olga Tokarczuk wurde 1962 in Sulechów geboren. Sie studierte Psychologie in Warschau. Ihr Romandebüt "Prodróž ludzi ksiegi" ("Die Reise der Buchmenschen") erschien 1993 und wurde von der Gesellschaft der polnischen Buchverlage als bestes Prosadebüt der Jahre 1992 und 1993 ausgezeichnet. 1995 erschien der Roman "E. E.". Ihr dritter Roman "Ur und andere Zeiten" ("Prawiek i inne czasy", 1996) wurde für den NIKE Literaturpreis nominiert. Olga Tocarczuk wohnt heute in einem kleinen Ort bei Nowa Ruda, nahe der polnisch-tschechischen Grenze; dort führte sie auch ihren eigenen kleinen Verlag „Ruta“. Inzwischen ist sie hauptberuflich Schriftstellerin. Im Jahr 2019 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.

Bibliographische Angaben meiner gelesenen Ausgabe

206 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Originaltitel: AnnaIn w grobowcach swiata; Aus dem Polnischen von Eshter Kinsky
Verlag: Berlin Verlag, Berlin, 1. Auflage 2007; ISBN 978-3-8270-0727-8

 

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