Das Leben steht still, Miriam, denkt er. Meinen wir. Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit läuft es uns die ganze Zeit weg. (Seite 122)

 

Cover: Miriam und das weiße KreuzZum Inhalt

Paul ist Schulbusfahrer in Baltimore. Doch die Zeiten ändern sich, die Umgebung ändert sich. Mehr und mehr entwickelt sich „sein“ Baltimore zu einem Slum, weswegen er fortzieht aufs Land. Dort hat er sehr bald eine Begegnung der etwas anderen Art mit einem Buggy: er fährt auf einen solchen auf. Damit beginnt sein Kontakt zur Welt der Amisch im allgemeinen und zu Eli, dem Fahrer des Buggy im Besonderen. Während Paul sich vom Dschungel der Großstadt erholt und mehr und mehr über die Amisch lernt, mit Eli und dessen Schwester Miriam in Kontakt kommt, braut sich ganz in der Nähe schweres Unheil zusammen.

 

 

Kommentar / Meine Meinung

Das Problem mit dieser Rezi beginnt bereits damit, daß ich keine Ahnung habe, in welche Rubrik ich sie einstellen soll. Das Buch sprengt förmlich alle Ketten und paßt in kein Regal.

Das fängt schon bei der meist eher nüchternen, rationalen, etwas distanzierten Sprache an, die - zumindest für mich - gewöhnungsbedürftig war; rund fünfzig Seiten dauerte das. Möglicherweise liegt das aber auch daran, daß ich auf Grund der Kurzbeschreibung etwas ganz anderes erwartet hatte. Es ist kein Jugendbuch, wie die Covergestaltung, und auch keine einfache Liebesgeschichte, wie die Verlagsinhaltsangabe glauben machen möchte. Ich empfand, daß das Buch in einer ganz eigenen Erzählstimme geschrieben ist, wie eine Art innerer Monolog, etwas grüblerisch, distanziert, aber dennoch nahe am Geschehen und den Personen dran. Meist aus Sicht Pauls, bisweilen auch aus der von Miriam oder ihrem Bruder Eli, so daß man beide Seiten - und deren gegenseitiges Unverstehen - nachvollziehen kann. Ein Lob an dieser Stelle an den Übersetzer; zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl, eine Übertragung aus einer anderen Sprache zu lesen. Es war, als ob es ein im Original deutschsprachiges Buch wäre.

Das geht weiter bei der, trotz nur hundertachtzig Seiten, weit ausholenden Erzählweise, die Vergangenheit und Gegenwart in einer berückenden Symbiose verbindet. Auf diesen hundertachtzig Seiten ist so viel an Fakten enthalten, daß man das Buch durchaus auch als Sachbuch über die Amish sowie die Lokalgeschichte eines begrenzten Gebietes ansehen könnte, wenn es nicht wie ein Roman geschrieben wäre.

Im Verlauf der Erzählung bekommt man eine Vorstellung davon, wie die Amisch denken und leben, was ihre Überzeugungen und Handlungsweisen sind. Man versteht etwa, weshalb sie sich zwar von anderen Menschen in einem Auto chauffieren lassen, jedoch selbst keines besitzen bzw. fahren dürfen. Und indem große Teile des Buches aus der Sicht von Paul, dem Schulbusfahrer, geschrieben sind, erlebt man den Aufprall der Kulturen direkt aus seiner Sicht mit. Vom ersten - wortwörtlich zu verstehenden - Aufeinanderprallen bis hin zu der Mauer, die die Kultur der Amischen von der der Englischen - und damit Paul - trennt.

Wie gesagt, im Verlauf der Handlung lernt man einiges über die Amisch, etwas über ihre Geschichte, viel über ihr Leben und manches über die Beziehungen zur Umwelt (bzw. die der Umwelt zu ihnen), so daß man ganz ohne Vorkenntnisse - wie Paul - an sie herangehen kann. Wer sich etwas genauer auskennt ahnt, was zwangläufig kommen muß. Als das erste Mal der Name Charles Karl Robert IV. gefallen ist, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter, war es doch eine erstes Anklingen, eine Vorbereitung auf das Grauen, mit dem das Buch enden muß.

So kommt es denn, wie es kommen muß, und jetzt hilft auch keine noch so distanzierte und nüchterne Sprache mehr: in tiefer innerer Erschütterung habe ich das Buch beendet. Was möglicherweise subjektiv verstärkt wurde, weil ich etliches über das Attentat auf die Amisch-Schule gelesen und erst kürzlich einen Film darüber gesehen habe. Die wenigen Worte sind so zu starkem Leben erwacht. Aber auch der Bericht über die kleine Sadako und ihre tausend Kraniche trägt seinen Teil dazu bei. Die tausend Kraniche, von denen sie nur 644 fertigfalten konnte, bevor sie an den Folgen des Atombombenabwurfs von Hiroshima starb. Sie, wie viele andere, und die fünf Mädchen der Schule von Nickel Mines, Pennsylvania, von denen eine Marian Fischer war. Warum aber Paul immer, wenn er ein weißes Kreuz sieht, an jene stille Heldin denken wird, die er zu Beginn des Buches nach dem Weg gefragt hat: das, ja das müssen Sie schon selbst lesen.

 

Kurzfassung

Ich kann das nicht kürzer, außer vielleicht so: eines meiner großen, stillen, unerwarteten Lesehighlights.

 

Bibliographische Angaben:

183 Seiten, gebunden. Originaltitel: Amish. Aus dem Schwedischen von Dr. Friedemann Lux.
Brunnen Verlag, Gießen 2010

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