Es geht längst nicht mehr um Propaganda und Gegenpropaganda, sondern um die Auseinandersetzung darum, ob es überhaupt noch eine Unterscheidung von facts und fiction gibt. (...) Die dreiste Lüge ist längst talkshowtauglich geworden. (Seite 74f)

 

Cover: Entscheidung in KiewZum Inhalt

Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist diese in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.
Karl Schlögel gib auf rund achtzig Seiten einen Überblick über die Situation und die Entwicklung von der UdSSR bis hin zum eigenständigen Staat Ukraine. Er geht darauf ein, wie Russland die Ukraine sieht - und wie wir im Westen alle unheilsdrohenden Anzeichen geflissentlich übersehen haben.
Im Hauptteil beschreibt er ukrainische Großstädte, deren historische Entwicklung wie ihre Gegenwart - bevor Putins Armee die zerstört und eine Barbarei entwickelt hat, wie man sie in Europa seit 1945 nicht mehr erlebt hat.

 

 

 

Meine Meinung

Es sei zugegeben: die Ukraine war für mich bis bisher nichts weiter als ein großer weißer Fleck mit ein paar Einsprengseln auf der Landkarte. Kiew heißt die Hauptstadt, und mit der Kiewer Rus beginnt (vereinfacht ausgedrückt) die russische Geschichte. Die Ukraine gehörte zur UdSSR und ist nun ein eigener Staat. Ansonsten: Fehlanzeige.

Dann kam der 24. Februar 2022.

Die Ukraine rückte ins volle Schlaglicht der Weltgeschichte. Das erste Mal seit Adolf Hitler begann jemand einen Angriffskrieg gegen ein anderes Land in Europa. Etwas, was für mich bis dato völlig unvorstellbar und außerhalb alles Denkbaren war.

Hätte man das Voraussehen können - oder gar müssen? „Ja“ - hieß es in einem Artikel über die Ukraine. Und sinngemäß weiter, daß man es nach der Lektüre der „Entscheidung in Kiew“ hätte voraussehen können. So besorgte ich mir das Buch - und leider ist diese Einschätzung zutreffend, was die „Blindheit“ des Westens und vor allem großer Teile der deutschen Politik in um so schlechterem Licht erscheinen und einen an der eigenen Urteilsfähigkeit bis zu einem gewissen Grade zweifeln läßt.

Schlögel hat das Buch 2015, nach der Annexion der Krim durch Russland, geschrieben und unter anderem die Frage gestellt: „(...), aber wie hält man eine Aggression auf, die sich mit Gesprächen nicht aufhalten läßt?“ (S. 80) Heute wissen wir: gar nicht. Weder ließ sich Adolf Hitler aufhalten - noch läßt sich Wladimir Putin aufhalten. Wie es mit Hitler ausging, ist in den Geschichtsbüchern nachzulesen. Ob ich je werde lesen können, wie es mit Putin ausgeht? Die Schergen Putins sprechen bereits vom 3. Weltkrieg (vgl. tagesschau.de vom 26. April 2022 „NATO-Waffenlieferungen als Angriffsziele“): ob ich den überleben werde - oder überhaupt überleben will - weiß ich nicht.

Karl Schlögel hat ein aufrüttelndes Buch geschrieben. Hätte ich seine rund achtzigseitige Einleitung schon damals nach Erscheinen des Buches gelesen, hätte ich vieles früher verstanden und (vielleicht) vorausgesehen. Nur: weshalb lesen Politiker nicht solche Analysen von ausgewiesenen Fachleuten? Ich kann es mir leisten, bis zu einem gewissen Grade unwissend zu sein. Politiker jedoch sollen die Geschicke des Landes und des Volkes lenken, sie tragen die Verantwortung dafür - warum sind die so blind und führen ein ganzes Land, vielleicht einen ganzen Kontinent, in eine Katastrophe?

Der Hauptteil des Buches besteht aus Schilderungen von Großstädten der Ukraine wie Kiew, Odessa, Charkiw oder Donezk. Städte, die seit dem 24. Februar eine traurige Berühmtheit erlangt haben. Da ich diese Städte weder besucht habe noch vermutlich je sehen werde, sagten mir viele Detailbeschreibungen nicht viel. Äußerst interessant sind jedoch die historischen Darstellungen. Es ergibt sich das Bild lange gewachsener Städte, die viel erdulden mußten - von der Revolution 1917 bis hin zu den Untaten im 2. Weltkrieg. Und auch dies sei zugegeben: erstmals überhaupt erfuhr ich durch Schlögels Erzählungen von dem, was die Städte (bzw. die Menschen der Städte) im 2. Weltkrieg durch sowjetische, vor allem aber durch deutsche Besatzer erdulden mußten. Las von dem, was Wehrmacht und SS dort im Namen der „Endlösung“ angerichtet haben und habe irgendwann aufgehört, die in die hundertausende, wenn nicht Millionen gehenden Opferzahlen im Kopf zu addieren. Habe versucht, mich gegenüber dem Grauenhaften, was da nüchtern beschrieben wurde, zu immunisieren.

Die Städte wurden im besten Sinne des Wortes multikulturellen Gesellschaften bevölkert, die friedlich miteinander lebten. All das wurde während der deutschen Besatzung im 2. Weltkrieg zerstört. Und jetzt, da die Städte zu neuer Blüte herangereift sind, schickt ein größenwahnsinniger kleptokratischer (ein Ausdruck, der übrigens sehr häufig im Buch für Putin und seine Schergen verwandt wird) Diktator seine Soldaten und Bomber, wieder alles zu zerstören.

So viel wird überdeutlich: Putin hat mit seinem Angriffskrieg die Nachkriegsordnung in Europa unwiderruflich zerstört. Dauerhafter Frieden, nachbarschaftliches Zusammenleben aller Staaten in Europa hat sich als Illusion erwiesen. Oder anders in Anlehnung an den Schlußsatz des Buches: das Unheimliche ist zurückgekehrt. (vgl. S. 290)

 

Mein Fazit

Ein aufrüttelndes, bewegendes Buch über die Ukraine und einige ihrer großen Städte. Wer die Situation in der Ukraine verstehen möchte, sollte dieses Buch unbedingt lesen.

 

Über den Autor

Karl Schlögel, geb. 1948, hat an der FU Berlin Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Er war als Privatgelehrter sowie Publizist tätig. Von 1990 bis 1994 lehrte er an der Universität Konstanz, ab 1995 bis zu seiner Emeritierung 2013 war er Professor für Osteuropäische Geschichte an der 1991 neu gegründeten Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Schlögel erhielt viele Ehrungen und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Er lebt in Berlin.

Bibliographische Angaben

304 Seiten, kartoniert, Literaturverzeichnis
Verlag: Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main 2017, 3. Auflage 2022; ISBN 978-3-596-29643-9

 

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